Einmal der Brad Pitt im eigenen Film sein, die Carrie Bradshaw in der eigenen Serie – klingt absurd, aber genau so lautet die einfachste Erklärung für ein Phänomen, das immer mehr Eltern bei ihrem Nachwuchs entdecken: das Hauptdarsteller-Syndrom. Klingt fast nach anerkannter Krankheit, ist aber eher eine populär-psychologische Beschreibung für ein Leiden der TikTok-Generation: Im Mittelpunkt stehen zu müssen, auf Social Media den Followern eine Best-Case-Version des eigenen Lebens zu präsentieren und sich dafür feiern zu lassen. Wer braucht schon einen Oscar, wenn er 1000 Likes bekommen hat.
Individuell und ganz besonders
„Main Character Energy”, also die Energie einer einzelnen charismatischen Person, wird in den Sozialen Medien schon lange als Lebenszweck propagiert. Besonders Millennials und Mitglieder der Generation Z werden davon angesprochen. 68 Prozent von ihnen, so haben Umfragen aus dem Jahr 2022 ergeben, glauben ohnehin, dass ihr Leben „individuell” und „besonders” ist. Wertig genug also, auf Instagram, Facebook oder X (ehemals Twitter) eine Bühne zu erhalten, ein eigenes Format, dass ihr Leben den Zuschauern vorführt und damit glorifiziert.
Der Wunsch nach Anerkennung
Nun ist gegen Eigen-Hype und eine gesunde Portion Selbstbewusstsein erstmal wenig einzuwenden – es ist immer noch besser, als ein Leben als stilles Mauerblümchen. Der Psychologe Michael G. Wetter erklärte gegenüber der Daily Mail, dass das Hauptdarsteller-Syndrom eine „unvermeidliche Folge des natürlichen menschlichen Wunsches nach Anerkennung und Bestätigung ist.” Dieser Traum verschmilzt „mit der sich schnell entwickelnden Technologie, die eine sofortige und weit verbreitete Selbstdarstellung ermöglicht.” Schön gesagt. Jedoch neigen Menschen mit dem Hauptdarsteller-Syndrom dazu, online ein falsches Bild von sich selbst zu zeigen. Sie wollen besser dastehen als ihr reales Ich. Psychologe Wetter: „Sie bauen ihre Online-Persönlichkeit wie ein Drehbuch auf.”
Fake it vs toxische Lebensweise
Klingt ja alles gar nicht so schlimm. Die Amerikaner haben das „Fake it till you make it” (deutsch: täusche vor, bis du es geschafft hast) sogar zum Lebensprinzip auserkoren. Das Syndrom hingegen verursacht tiefe Risse in zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn Menschen glauben, dass ihre eigenen Bedürfnisse und Meinungen über allen anderen stehen, führt dies zwangsläufig zu Konflikten. Die Psychologin Dr. Maria Becker geht noch weiter: „Das ist ein Zeichen von Egozentrik und kann zu einer toxischen Lebensweise führen. Wenn jemand glaubt, dass nur seine eigene Perspektive zählt, führt das zu Isolation.” Hyperindividualisierung heißt das in der Sprache der Psychologie. Einfacher formuliert: Wenn es nur einen Hauptdarsteller gibt, sind alle anderen nur Nebenrollen.
Der Verlust der Perspektive
In diesem Kontext unterstreicht die Berliner Psychologin Dr. Laura Schmidt die Bedeutung des Miteinanders: „Es ist von entscheidender Wichtigkeit, sich bewusst zu machen, dass wir in einem sozialen Gefüge leben. Die Perspektiven anderer sind genauso wertvoll wie unsere eigenen.” Empathie und Verständnis machen erst eine Gesellschaft aus.
Wer hat Ego und wer ist Hauptdarsteller
Nun stellt sich für Eltern natürlich die Frage, wo ist die Grenze? Was ist noch ein vertretbares Ego und was schon Hauptdarsteller-Syndrom. Grundsätzlich gibt es keine leichte Antwort darauf. Aber vielleicht hilft die Zusammenstellung einiger Beobachtungen:
- Ihr Kind (ganz gleich ob 12 oder 20) will immer die Kontrolle behalten: Wer dem Hauptdarsteller-Syndrom zuzuordnen ist, wird andere Meinungen nicht schätzen, sondern blockieren.
- Es gibt nur die Probleme eines Hauptdarstellers: Wer nur noch die eigenen Schwierigkeiten im Blick hat, die Hürden sogar höher darstellt als sie sind – und sich für die Pannen oder Schicksale seiner Mitmenschen gar nicht mehr interessiert (oder sie wahlweise kleiner macht) – der ist schon mitten im Syndrom gefangen.
- Kritikfähigkeit und Selbstironie waren gestern. Hauptdarsteller sehen sich als Koryphäen, haben die Hoheit über ihre Themen. Wer sich selbst für unfehlbar hält, wird keine anderen Fakten mehr akzeptieren.
- Ich Chef, Du Diener: Wer der Ansicht ist, dass er von seinen Mitmenschen alles erwarten oder abverlangen kann – zu jeder Tages- und Nachtzeit – der hat jede Sozial-Kompetenz verloren. Ein wichtiger Aspekt des Hauptdarsteller-Syndroms.