Aus der Haut und an die Decke – Hochsensibilität bemerken und damit umgehen

von | 30. Nov 2023

„Stell’ Dich nicht so an!” Dieser Satz ist nicht nur nervig, manchmal ist er eine regelrechte Verletzung. Menschen mit Hypersensibilität erleben die Welt auf eine tiefgreifendere Weise – ihre Sinne sind schlicht intensiver ausgeprägt als beim Durchschnitt. Lärm, grelles Licht oder große Menschenansammlungen verursachen bei Betroffenen krankhaft viel Stress. Sie können sich „nicht einfach mal locker machen“, denn für sie sind alltägliche Reize oft überwältigend. Wissenschaftler spekulieren, dass 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung daran leiden. Als eigenständige Krankheit ist Hypersensibilität jedoch (noch) nicht anerkannt. Wir beleuchten die Hintergründe dieses komplexen Phänomens.

Wenn die Welt zu viele Reize auslöst

Das Gehirn von Menschen mit Übererregbarkeit verarbeitet Reize um ein Vielfaches stärker. Dieser Zustand hat deutliche Auswirkungen auf das tägliche Leben, da Sinnesreize – die für andere manchmal kaum wahrnehmbar sind – für Hochsensible zu einer Herausforderung werden. Licht und Lärm können nicht nur irritierend sein, sondern auch Schwindelattacken oder Übelkeit auslösen. Dich es reichen schon subtile Empfindungen: Ein kratzendes Etikett am Nacken oder ein prägnanter Geruch werden zu unangenehmen, fast schon schmerzhaften Erfahrungen. Die Problematik erstreckt sich über alle Sinnesorgane, wobei meistens nur eines davon betroffen ist. In Extremfällen kann jedoch eine Reizüberflutung alle fünf Sinne beeinträchtigen. Das ist für Betroffene kaum erträglich.

Dem Gehirn fehlt ein Filter

Wo entsteht die Hypersensibilität? Die Forschung hat mehrere Ansätze: Veränderungen in der Funktionsweise und Vernetzung bestimmter Gehirnregionen (insbesondere solcher, die mit der Verarbeitung von Reizen verbunden sind) beeinflussen hypersensitive Reaktionen. Aber auch das limbische System, das mit Emotionen verbunden ist, kann verantwortlich sein. Psychologische Aspekte, wie Persönlichkeitsmerkmale oder psychische Gesundheitszustände, spielen oft eine Rolle. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Hypersensibilität genetisch vererbt werden kann. Fakt ist: Die heutige Zeit macht es für Betroffene besonders schwer: „Weil die Gesellschaft so schnelllebig wird, weil wir immer häufiger erreichbar sind, weil wir viel, viel mehr mit Informationen konfrontiert werden. Und weil einfach die Ansprüche ganz andere sind als noch vor 100 Jahren,“ sagt Psychologin Daniela Schmitten in einem Interview mit dem Sender SWR.

Gibt es auch Vorteile?

Hypersensible Menschen sind oft besonders empathisch. Sie können sich gut in die Emotionen anderer einfühlen und sind bereit, sich für das Wohlbefinden aller einzusetzen. Sie sind somit in der Lage, tiefere emotionale Bindungen aufzubauen. Sprich: Ihre Fähigkeit, Bedürfnisse und Emotionen zu verstehen, trägt zu starken zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Zudem wird vielen Künstlern aus Musik oder Literatur nachgesagt, sie seien hypersensibel. Die intensive Wahrnehmung wird als kreative Inspirationsquelle genutzt. Sie können subtile Details und Feinheiten bemerken, die anderen entgehen.

Die Herausforderungen im Alltag

Bei Kindern ist das Problem natürlich noch größer als bei Erwachsenen – zum einen wird ihnen schlicht seltener Glauben geschenkt, und andererseits sind oft nicht in der Lage, ihre Gefühlswelt so zu beschreiben, dass das Problem erkannt wird. „Die Kinder kommen manchmal so ein bisschen rüber wie eine Prinzessin auf der Erbse. Das sind ganz viele Kleinigkeiten, die zu einem großen Leidensdruck führen können,“ warnt Schmitten.

Hypersensibel – und nun?

Meditation kann hilfreich sein. Auch sollten Betroffene sich über das Gebiet informieren und Situationen, in denen eine wie auch immer geartete Reizüberflutung zu befürchten ist, meiden. Ein Spaziergang im Park oder Wald wirkt Wunder. Die Stille und Abgeschiedenheit sind Balsam für die schwer zur Ruhe kommende Seele. Kindern sollte vermittelt werden, dass ihre Hypersensibilität nicht schlimm ist, sondern sie im Gegenteil zu etwas Besonderem macht. Es geht nicht darum, sich anzupassen, sondern die Einzigartigkeit und die Stärken der Hochsensiblen zu erkennen und zu schätzen.

Ricarda Sauert

Ricarda Sauert