1.000 Filme und Serien – und doch nichts zum Anschauen

von | 11. Aug 2023

Es ist wie mit dem Kleiderschrank. Der ist voll und trotzdem haben wir nichts zum Anziehen. Genauso verhält es sich mit dem Angebot der Streaming-Anbieter. Hunderte, quatsch, tausende Filme und Serien zur Auswahl – Romanzen, Action, Grusel, Comedies – und dennoch haben wir nichts zum Anschauen. Netflix-Effekt wird das im Volksmund genannt. Ein Drama – aber keins im TV, sondern davor. Auf der Couch! Hilfe!

Wenn James Bond uns müde macht 

Die Psychologie kennt einen Fachbegriff dafür: Decision Fatigue. Zu deutsch: Entscheidungsmüdigkeit. Die Qual der Wahl sozusagen. Da rettet kein James Bond mehr und keine weitere Staffel „Stranger Things”, da geht uns die erotische „Bridgerton”-Welt am Allerwertesten vorbei und entlockt uns der nächste Re-Run der „Big Bang Theorie” kein müdes Lachen. Das sind ja nur vier der geschätzt 4000 Titel, die pro Jahr auf den größten Streaming-Seiten veröffentlicht werden. Unklar ist, wieviele Leben wir brauchen würden, um alle Filme, Serien und Reality-Schandtaten eines einzelnen Produktions-Jahres anzuschauen. Eines jedenfalls würde hier nicht ausreichen.

Bitte bloß nichts übersehen 

Was für ein blödes Dilemma: Anstatt begeistert zu werden, fühlen wir uns schlicht überfordert. Sitzen vor endlosen Listen von Empfehlungen, Genres und Neuerscheinungen. Mit dem Ergebnis einer Hemmung, eine Taste auf der Fernsteuerung zu drücken. Denn das, was folgen könnte, sieht ja so aus: Angst davor, eine potenziell großartige Serie oder den einen tollen Film zu übersehen. Und damit beginnt ein Teufelskreis: Wir durchstöbern Kategorien, lesen Bewertungen, vergleichen Handlungen – plötzlich ist schon eine ganze Stunde vergangen. Und: Die Zeit, die wir mit der Suche verbracht haben, hat schon wieder Energie und Geduld gekostet. Der Play-Button hat nichts „spielerisches” mehr; plötzlich fühlt sich die Auswahl des nächsten Unterhaltungsprogrammes nach großer Verantwortung an.

Die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne 

Also bleibt der Fernseher immer häufiger ausgeschaltet. Der Grund ist: Wir alle haben nur eine begrenzte kognitive Aufmerksamkeitsspanne. Das gilt für den Alltag, für den TV-Genuss aber ganz besonders. Werden mit zu vielen Möglichkeiten konfrontiert, neigen wir dazu, gar keine Entscheidung mehr zu treffen.

Marmelade vs Netflix & Co


Übrigens: Eine psychologische Betrachtung dieser speziellen Form der „
Decision Fatigue” steht noch aus. Daher greifen Medien-Wissenschaftler gerne zu einer vergleichbaren Studie: Wissenschaftler Barry Schwartz hat sie in seinem Buch „Das Paradox der Wahl” beschrieben. Er bezieht sich darin auf Experimente, bei denen Kunden zwischen 24 Marmeladensorten wählen konnten. Eigentlich ein sehr schöner Vergleich, weil Netflix und Co uns ja auch den Alltag versüßen sollten. Fakt ist aber: Zwar nahmen sich die potenziellen Käufer Zeit zum Probieren – aber nur 3 % kauften tatsächlich eine Sorte. Beim zweiten Versuch wurden einem anderen Kundenstamm nur 6 Marmeladen angeboten – und jeder dritte kaufte mindestens ein Gläschen.

Zu viel Auswahl macht uns unfrei

Ums nun auch wissenschaftlich zu erläutern: Eine Studie der Psychologen William Edmund Hick und Ray Hyman ergab, dass das Gehirn bei zu wenigen Optionen (unter 6) und bei zu vielen (ab 24) Überlastungserscheinungen zeigt. Sie alle kommen zu dem Schluss: Ein Überangebot an Wahlmöglichkeiten kann eine Stresssituation beim Entscheiden erzeugen, die uns alle überfordert. Auch wenn die Wahl „frei” ist.

Der Kampf gegen die Streaming-Fatigue

Zurück zur Streaming-Fatigue: Die Herausforderung liegt also darin, den „Bann” dieser Entscheidungsmüdigkeit zu durchbrechen. Ein Ansatz besteht darin, klare Auswahlkriterien festzulegen, bevor wir in den Strudel der Optionen gesaugt werden. Wir sollten uns auf bestimmte Genres oder Stimmungen festlegen und uns dann auf Inhalte beschränken, die diesen Kriterien entsprechen. Dann wird der nächste Abend mit Netflix, Disney und Co zumindest wieder ein schönes TV-Erlebnis.

Maike Dorn

Maike Dorn

Redakteurin für Nachhaltigkeit, Psychologie und Medienthemen maike@365balance.de